Mildere Mittel
Wir haben ja bereits auf die bereichernde Vielstimmigkeit der Gruppe hingewiesen: Mitglieder die Zwangsausübung in der Psychiatrie grundsätzlich für menschenrechtswidrig halten und entsprechend ein Verbot fordern und Mitglieder, die unter den gegenwärtigen Bedingungen, für die maximale Vermeidung von Zwang eintreten.
Bei der Darstellung der ‚milderen Mittel‘ (1) zu Zwang ergibt sich daraus ein schwerwiegendes Dilemma. So wird zum Beispiel durch Nachbesprechungen die grundsätzliche Möglichkeit von Zwang eingeräumt und in Behandlungsvereinbarungen Zwang als letztes Mittel sogar möglichweise vereinbart.
Wir wollen gezielt auf dieses Dilemma hinweisen. Letztlich haben wir uns für eine Gesamtübersicht aller milderen Mittel entschlossen, um den unterschiedlichen Interessengruppen (betroffene Menschen, Angehörige, medizinisch und juristisch tätige Personen) den großen Spielraum der Möglichkeiten aufzuzeigen und damit den Druck auf die Psychiatrie erhöhen, diese in vollem Umfang zu nutzen
Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind sich einig, dass der Einsatz von Zwangsmaßnahmen, dazu zählt auch informeller Zwang, nicht das grundsätzlich letzte Mittel sein kann. Bei rechtzeitigem Einsatz von milden Mitteln kann er vermieden werden. In den folgenden unterschiedlichen Rubriken zeigen wir Herangehensweisen auf, die zeigen wie auf Gewalt und Zwang in der Psychiatrie verzichtet werden kann.
Die vorgestellten Mittel bedürfen für ihre Umsetzung engagierter Erfahrungsexpert*innen, professionell Tätiger und auch Angehöriger. Sie werden hier dargestellt, um auf der Ebene der Leitung von psychiatrischen und psychosozialen Einrichtungen, als auch bei politischen Entscheidungsträger*innen dafür zu werben, eine entsprechende Finanzierung für die Nutzung milderer Mittel bereit zu stellen. Darüber hinaus müssen zu einer Umsetzung der Menschenrechte in der Unterstützung von Menschen in und nach seelischen Krisen, staatlicherseits Mittel bereit gestellt werden, die nicht-medizinische und/oder betroffeneninitiierte Ansätze fördern und als gleich anerkannte Alternativen zur medizinischen Versorgung finanzieren.
(1) Der Begriff „mildere Mittel“ bezieht sich auf den rechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser Grundsatz ist ein (ungeschriebener) Teil des Rechtsstaatsprinzips und soll sicherstellen, dass jede Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig (im Sinne von angemessen) ist. Hintergrund ist, dass der Staat nicht stärker durchgreifen sollte als erforderlich. Eine Maßnahme, die diesen Anforderungen nicht entspricht, ist rechtswidrig.
Der Begriff mildere Mittel kommt ins Spiel, wenn es um die Einschätzung der „Erforderlichkeit“ einer Maßnahme geht. Die Mittel müssen erforderlich sein, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Wenn es andere, weniger freiheitseinschränkende Mittel („mildere Mittel“) gibt, die zu demselben Ziel führen, ist diese Erforderlichkeit nicht mehr gegeben. Ein Mittel ist also nur dann erforderlich, wenn es keine milderen Mittel gibt, die denselben Erfolg erzielen.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist ein grundlegend überall dort, wo zwischen widerstreitenden Interessen ein Ausgleich geschaffen werden muss. Um es anzuwenden, sind Kreativität und Einsatz gefragt: Als Ersatz von einer freiheitseinschränkenden oder medizinischen Zwangsmaßnahme müssen andere, sinnvolle Lösungsansätze zum Erreichen eines Ziels herausgearbeitet oder für bereits vorhandene Lösungen mildere Umsetzungswege gesucht werden. Nur wenn dieser Abwägungsprozess erfolgt ist, ohne dass mildere Mittel zur Erreichung desselben Ziels gefunden wurden, ist eine Maßnahme verhältnismäßig.
(Quelle: https://www.juraindividuell.de/pruefungsschemata/der-verhaeltnismaessigkeitsgrundsatz/)