Psychiatrie und Gesellschaft
Psychiatrie wird mit Zwang oder der Möglichkeit der Ausübung von Zwang verbunden.[1] Um vor willkürlicher Zwangsausübung zu schützen, gibt es in Deutschland, wie in vielen anderen Staaten auch, Freiheitsrechte[2], welche die Anwendung von gesellschaftlich legitimiertem Zwang auf das Strafrecht und andere Sondertatbestände begrenzen.
Als „psychisch krank“ angesehene Menschen können zu Personen erklärt werden, vor denen die Öffentlichkeit, vermeintlich auf Grund von Selbst- oder Fremdgefährdung, geschützt werden muss. Als gefährdend eingestufte Menschen sind dann mitunter nicht mehr Teil der zu schützenden Öffentlichkeit. Das Betreuungsrecht (über das Bürgerliche Gesetzbuch) und landesrechtliche Unterbringungsgesetze ermöglichen daraus folgend, Zwang an Personen zu vollziehen, ohne dass eine Straftat vorliegt.
Dieses Vorgehen, ist nicht nur menschenrechtlich betrachtet grundlegend zweifelhaft. Wenn ein Mensch an ein Bett fixiert wird oder zur Psychopharmakaeinnahme gezwungen wird, weil er sich angeblich unangemessen, bedrohlich oder störend verhält, sind dies massivste Grundrechtseingriffe und ein grober Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte.
Wie kommt also eine Gesellschaft darauf, störende Abweichungen mit Zwang zu beantworten? Geht es immer um die Verhinderung eines Schadens anderer oder der Person selbst? Wieso ist eine Abweichung überhaupt ein zu lösendes Problem, wenn es nicht konkret um eine schon bestehende oder eine unmittelbare Gefährdung anderer geht, wie in jeder anderen sozialen Situation?
Weshalb werden etliche Varianten auch von erheblich selbst- und fremdgefährdendem Verhalten gesellschaftlich geduldet, während bei Menschen mit psychiatrischen Diagnosen bereits vermutete Gefährdungen mit Zwang beantwortet werden können? Weshalb wird dabei regelmäßig in Kauf genommen, dass Zwang und seine Androhung mit dem entsprechenden Eskalationspotenzial die Gefährdungssituationen erst hervorbringen oder zuspitzen? Wer definiert die Abweichung die zu solchem Verlust an Grundrechten führt?
Eine menschenrechtskonforme psychiatrische Unterstützung, wie es auch die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, sollte zuletzt der Autonomie der Betroffenen dienen. Wie soll das mit Zwang möglich sein?
„Abweichung“ als von der Norm abweichendes Erleben und Verhalten[3] kann sozial, psychologisch, anthropologisch und eben auch medizinisch betrachtet werden[4] – mit teils verhängnisvollen Konsequenzen für die Betroffenen. Wer einmal in das Raster nicht annehmbaren Verhaltens geraten ist, läuft Gefahr nicht nur immer wieder danach bewertet zu werden, sondern auch mittels Zwangsmaßnahmen in gesellschaftlich definierte legitime Verhaltensweisen gedrängt zu werden.
Ärzt*innen berufen sich in ihren Entscheidungen über Zwangsmaßnahmen auf ein medizinisches Krankheitsmodell, dass psychische Auffälligkeiten oftmals ihres sozialen Kontextes enthebt.[5] Dieses Modell missachtet nicht nur soziale, politische und kulturelle Faktoren, welche die Bewertung dessen was „krank“ und „abweichend“ sein soll, deutlich mitprägen[6], sondern reduziert die betroffene Person auf ihre, ihr angeblich innewohnenden, Defizite. Die Diskussion um Zwang sollte somit immer auch eine Diskussion über ein Komplexität reduzierendes, medizinisches Erklärungs- und Betrachtungsmodell psychosozialer Auffälligkeiten sein.
Ethische und Menschenrechtsfragen müssen entsprechend immer wieder neu vor dem Hintergrund der Definitionsmacht über „Krankheit“ diskutiert werden. Denn die Macht „psychisches Kranksein“ zu benennen und zu definieren, trägt, wie die Geschichte zeigt, immer auch das Risiko in sich eine zerstörerische Wirkung auf politisch und gesellschaftlich Unerwünschtes zu entfalten.[7]
Ungeachtet dieser Betrachtungen von Zwang, die die psychiatrische Praxis teilweise grundlegend in Zweifel stellen und in Anbetracht der Tatsache, dass psychiatrische Einrichtungen eine durchaus anfechtbare Form des gesellschaftlichen Umgangs mit abweichendem Verhalten sind, ist es gegenwärtig von entscheidender Bedeutung, wie der Umgang mit als abweichend und krank definiertem Verhalten im praktischen Arbeitsalltag von Menschen die in Psychiatrien arbeiten, gestaltet wird und wie angemessenen darin stattfindende Handlungslogiken sind.
Gerade in geschlossenen Räumen ohne Schutz ermöglichende Öffentlichkeit, im Gefängnis zum Beispiel, aber auch in geschlossenen Behandlungseinrichtungen der Psychiatrie die nicht frei zugänglich und transparent sind, ist die Gefahr besonders hoch, dass die Behandlung von Patient*innen nicht menschenwürdig praktiziert wird.[8]
Es gibt wenig Statistiken über die Anwendung von Zwangsmaßnahmen in deutschen Psychiatrien.[9] Dies liegt zum einen daran, dass Kliniken diese Zahlen nicht öffentlich machen müssen und oft auch nicht wollen. Denn Kliniken befürchten häufig negative Bewertungen und öffentliche Kritik, als Folge solcher Transparenz.
Zum anderen sind die Grenzen dessen was als Zwangsmaßnahme definiert wird je nach Perspektive unterschiedlich.[10] Sehr viele Erfahrungsberichte von betroffenen Menschen verweisen auf traumatisierende Erlebnisse in Psychiatrien. Eine Behandlung unter Einsatz von Zwang, wird meist als entwürdigend erlebt und trägt nicht selten zu einer Verstetigung des Leidens bei.[11] Zwang kann hierbei viele Formen annehmen: das Rationieren von Zigaretten, die verpflichtende Teilnahme an Therapien, in Visiten und Gesprächen von mehreren Professionellen umgeben zu sein, nicht angehört und ernst genommen zu werden, wenn Probleme und Zweifel bestehen und vieles Mehr. Diese Perspektive bekommt nach wie vor zu wenig öffentliche Aufmerksamkeit und wird nicht wesentlich in die politischen Entscheidungen rund um psychiatrische Versorgung miteinbezogen. Vielmehr werden diese Erfahrungen und Anliegen auf Grundlage eines zugeschriebenen Unvermögens der betroffenen Person, Situationen „richtig“ einzuschätzen, vielfach nicht ernst genommen.
Menschenrechte in der Psychiatrie müssen, um wirksam zu sein und durchgesetzt zu werden, alltäglich (re-)produziert und gerade auch durch die maßgebliche Einbeziehung von Erfahrungsexpert*innen, regelmäßig geprüft werden. Andernfalls, bleiben Menschenrechte nur ein formaler Rahmen, die keine Praxis haben. Der Verweis auf Menschenrechte dient dann im schlimmsten Fall, nur einer pseudomoralischen Rechtfertigung bestehender psychiatrischer und sozialer Verhältnisse.
Außerdem müssen vor dem Hintergrund von Erkenntnissen, zu sozioökonomischer Benachteiligung als Risikofaktor für psychische Krisen[12] und Anwendung von Zwang [13], gesellschaftliche Fragen sozialer Ungleichheit und deren Folgen in die Diskussion um Zwang im psychiatrischen Kontext miteinfließen.[14]
[1] Bekanntes Beispiel: Foucault, M.(2005): Die Macht der Psychiatrie – Vorlesungen am Collège de France 1973–1974, Suhrcamp, Frankfurt am Main
[2] Die Würde des Menschen (Artikel 1) und das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2) sind im Grundgesetz (GG) verankert. Die Freiheit der Person ist demnach unverletzlich.
[3] Becker, H.S. (2014): Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, 2. Auflage, Springer VS, Wiesbaden, S. 31
[4] Literatur zu sozialen Prozessen hinter Definition psychischer Abweichung/ Krankheit:
Lemert, E.M. (1951): Social pathology; a systematic approach to the theory of sociopathic behavior. McGraw-Hill, New York
Erikson, Kai T. (1957): Patient Role and Social Uncertainty. Psychiatry 20:263-274
Goffman, E. (1961): Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and other Inmates. Chicago 1961. Deutsche Ausgabe: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. 10. Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1995
Laing, R.D. und Esterson, A. (1964): Sanity, Madness and the Family. London: Penguin Books
[5] Vgl. Scheff, T.J. (1980): Das Etikett „Geisteskrankheit“: soziale Interaktion u. psychische Störung, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main, S. 15
[6] Ullmann L.P. und Krasner, L. (1965): Case studies in Behavior Modification. Hold, Rinehart and Winston, New York, S. 20 zitiert in: Scheff, T.J. (1980): Das Etikett „Geisteskrankheit“: soziale Interaktion u. psychische Störung, Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main
[7] Siehe beispielhaft: Riedesser, P., Verderber, A. (2011): „Maschinengewehre hinter der Front“: zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Mabuse- Verlag, Frankfurt am Main
[8] Martin Zinkler (Hg.), Klaus Laupichler (Hg.), Margret Osterfeld (Hg.) (2016): Prävention von Zwangsmaßnahmen Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie, Psychiatrie Verlag, Köln
[9] https://www.dgsp-ev.de/fileadmin/user_files/dgsp/dgsp/SP/SP_158/Baron_Mehl_Zwangsma%C3%9Fnahmen_SP158_S33-35.pdf
[10] https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/anhoerung-23-02-2017-fragenkatalog-rossmanith.pdf (Frage 2 und 3)
[11] Frajo-Apor B et al. (2011): „Etwas Erniedrigenderes kann dir eigentlich in der Psychiatrie nicht passieren“, Psychiatrische Praxis; 38: 293–299
[12] https://www.armutskongress.de/armutsbloganzeige/ak/arm-und-psychisch-krank-psychisch-krank-und-arm/
[13] https://www.ethikrat.org/fileadmin/PDF-Dateien/Veranstaltungen/anhoerung-23-02-2017-fragenkatalog-rossmanith.pdf (Frage 9)
[14] https://www.verbaende.com/news.php/Armutsfalle-psychische-Erkrankung-und-Behinderung?m=131328