Gerichtsentscheidungen

Im Folgenden listen wir Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und des Bundesgerichtshofs (BGH) auf, die sich grundlegend mit den rechtlichen Bestimmungen zu Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Kontext befassen. Die Liste ist unvollständig, wird aber nach und nach ergänzt. Durch klicken auf das + neben den Beschlüssen sind die jeweiligen Leitsätze des Beschlusses und Anmerkungen durch uns einzusehen.

1. Beschlüsse BVerfG

BVerfG, Beschluss vom 23. März 2011 2 BvR 882/09
– Medizinische Zwangsmaßnahmen im Maßregelvollzug –

Leitsätze:

  1. Der schwerwiegende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG, der in der medizinischen Behandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten gegen dessen natürlichen Willen liegt, kann auch zur Erreichung des Vollzugsziels gerechtfertigt sein.
  2. Eine Zwangsbehandlung zur Erreichung des Vollzugsziels ist nur zulässig, wenn der Untergebrachte krankheitsbedingt zur Einsicht in die Behandlungsbedürftigkeit oder zum Handeln gemäß dieser Einsicht nicht fähig ist. Maßnahmen der Zwangsbehandlung dürfen nur als letztes Mittel und nur dann eingesetzt werden, wenn sie im Hinblick auf das Behandlungsziel, das ihren Einsatz rechtfertigt, Erfolg versprechen und für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden sind, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Zum Schutz der Grundrechte des Untergebrachten sind besondere verfahrensmäßige Sicherungen geboten.
  3. Die wesentlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung bedürfen klarer und bestimmter gesetzlicher Regelung. Dies gilt auch für die Anforderungen an das Verfahren.

Anmerkung:

Der Beschluss bezog sich zwar zunächst nur auf medikamentöse Zwangsmaßnahmen im Maßregelvollzug, hatte aber im Jahr 2012 auch Konsequenzen auf die Regelungen von medikamentösen Zwangsmaßnahmen in der Allgemeinpsychiatrie.

Das BVerfG sieht kein absolutes Verbot medizinischer Zwangsmaßnahmen vor, siehe Rangnummer (Rn.) 45, und schließt medikamentöse Zwangsmaßnahmen gegen den natürlichen Willen betroffener Personen nicht grundlegend aus. Der Anlass dafür ist u.a. eine spezifische Auslegung des Artikel 12 Abs. 4 der UN-BRK, siehe Rn. 53.

Das Konstrukt der “krankheitsbedingten Einsichtsunfähigkeit” spielt eine entscheidende Rolle bei der Zulässigkeit medizinischer Zwangsmaßnahmen, siehe Rn. 47 und 54.

Unter Rn. 57. – 69. legt das BVerfG die Voraussetzungen für eine medizinische Zwangsmaßnahme fest. Von besonderer Bedeutung sind u.a.:

  • die Verhältnismäßigkeit
  • Zwangsmaßnahme nur als letztes Mittel (unter vorheriger Ausschöpfung milderer Mittel)
  • die angemessene ärztliche Informationspflicht
  • Festlegung Art und Dauer der Zwangsmaßnahme, deren Ankündigung und deren gerichtliche Überprüfung
  • Anordnung und Überwachung durch eine*n Ärzt*in

In Folge dieses Beschlusses, entschied der BGH 2012, dass die bisher vertretene Rechtsprechung, auf der Grundlage des § 1906 Abs. 1 BGB in der Fassung von 1992, keine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine betreuungsrechtliche medikamentöse Zwangsmaßnahme hatte und gab damit die bisherige Rechtsprechung auf (XII ZB 99/12). Deswegen hatte eine Betreuer*in zu diesem Zeitpunkt, auch im Rahmen einer geschlossenen Unterbringung, keine Berechtigung eine medizinische Zwangsmaßnahme zu veranlassen. Es gab entsprechend keine gesetzliche Regelung zu medikamentösen Zwangsmaßnahmen nach Zivilrecht und auch keine Übergangsregelung. Daraufhin forderte der BGH eine Neuregelung der rechtlichen Voraussetzungen für medizinische Zwangsmaßnahmen in der Unterbringung.

Nach der Entscheidung des BGH im Juni 2012 kam es zu gesetzgeberischen Konsequenzen, die sich im „Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme“ der Fraktionen CDU / CSU und FDP im November 2012 niederschlugen und bereits Januar 2013 trat ein entsprechendes Gesetz in Kraft (Bundesgesetzblatt 2013) (1). Dieses regelte die grundrechtliche Zulässigkeit medizinischer Zwangsmaßnahmen in Unterbringung.

BVerfG, Beschluss vom 26. Juli 2016 1 BvL 8/15
– Medizinische Zwangsmaßnahmen ohne Unterbringung –

Leitsätze:

  1. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt die Schutzpflicht des Staates, für nicht einsichtsfähige Betreute bei drohenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter strengen Voraussetzungen eine ärztliche Behandlung als letztes Mittel auch gegen ihren natürlichen Willen vorzusehen.
  2. a) Im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG kann Vorlagegegenstand auch eine Norm sein, bei der das Gericht eine Ausgestaltung vermisst, die nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten ist.
    b) Besteht ein gewichtiges objektives Bedürfnis an der Klärung einer durch eine Vorlage aufgeworfenen Verfassungsrechtsfrage, kann die Vorlage trotz Erledigung des Ausgangsverfahrens durch den Tod eines Hauptbeteiligten zulässig bleiben.

Anmerkung:

Vorgeschichte: Im Jahr 2015 wendete sich das BGH mittels eines Vorlagebeschlusses an das BVerfG (XII ZB 89/15). Darin stand zur Frage, ob der seit 2013 in Kraft getretene § 1906 Abs. 3 Satz 3 BGB und die damit verbundene zivilrechtliche Unterbringungsvoraussetzung zur Zulässigkeit einer medizinischen Zwangsmaßnahme, mit dem Gleichheitsrecht nach Art. 3 Abs. 1 des GG unvereinbar ist und damit verfassungswidrig sei. In diesem Vorlagebeschluss des Bundesgerichtshofs vom 1. Juli an das Bundesverfassungsgericht werden ärztliche Zwangsmaßnahmen „als den Betroffenen begünstigende Maßnahmen der staatlichen Fürsorge“ (RN 51) herausgestellt.

Der Beschluss 1 BvL 8/15 stellt nun in seinem Leitsatz den Schutzauftrag des Staates, als Legitimation von medizinischen Zwangsmaßnahmen, klar heraus.

In Folge Beschlusses 1 BvL 8/15 kam es zu einer weiteren Gesetzesänderung (Bundesgetzblatt 2017), die vorsieht medizinische Zwangsmaßnahmen nicht nur in betreuungsrechtlicher Unterbringung veranlassen zu können, sondern auch in stationärer Behandlung ohne Unterbringung (Parapgraph 1906a Abs. 4 BGB).

BVerfG, Urteil vom 24. Juli 2018 2 BvR 309/15
– 5 und 7 Punkt Fixierungen Eingriff in Grundrecht auf Freiheit –

Leitsätze:

  1. a) Die Fixierung eines Patienten stellt einen Eingriff in dessen Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 GG) dar.
    b) Sowohl bei einer 5-Punkt- als auch bei einer 7-Punkt-Fixierung von nicht nur kurzfristiger Dauer handelt es sich um eine Freiheitsentziehung im Sinne des Art. 104 Abs. 2 GG, die von einer richterlichen Unterbringungsanordnung nicht gedeckt ist. Von einer kurzfristigen Maßnahme ist in der Regel auszugehen, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet.
  1. Aus Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG folgt ein Regelungsauftrag, der den Gesetzgeber verpflichtet, den Richtervorbehalt verfahrensrechtlich auszugestalten, um den Besonderheiten der unterschiedlichen Anwendungszusammenhänge gerecht zu werden.
  1. Um den Schutz des von einer freiheitsentziehenden Fixierung Betroffenen sicherzustellen, bedarf es eines täglichen richterlichen Bereitschaftsdienstes, der den Zeitraum von 6:00 Uhr bis 21:00 Uhr abdeckt.

Anmerkung:

….

BVerfG, Beschluss vom 15. Januar 2020 2 BvR 1763/16
– Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Einstellung von Ermittlungsverfahren zu einer rechtswidrigen Fixierung –

Anmerkung:

Ärzt*innen und Pflegekräfte, die in Kliniken Patient*innen rechtswidrig fixieren, müssen mit Strafverfolgung rechnen. Eine länger als etwa 30 Minuten dauernde, nicht genehmigte Zwangsfixierung stellt einen gravierenden Eingriff in das Freiheitsgrundrecht dar, der strafrechtliche Ermittlungen begründet. Das Bundesverfassungsgericht rügt die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen einen Amtsarzt, einen Stationsarzt und einen Pfleger (RN 56).

Menschen die innerhalb einer Unterbringung rechtswidrig fixiert werden, haben ein Recht auf eine effektive Strafverfolgung (RN 32ff). Eine zwangsweise Fixierung mehr als einer halben Stunde stellt einen Freiheitsentzug dar. Sei diese rechtswidrig, könne “der Verzicht auf Strafverfolgung zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates führen” (RN 45.).

BVerfG, Beschluss vom 26.Mai 2020, 2 BvR 1529/19
– Freiheitsentziehung i.d.R. nur verhältnismäßig wenn erfolgreiche Heilbehandlung durchgeführt werden kann –

Leitsätze (redaktionell, entnommen: Bt-Recht):

1. Eine Freiheitsentziehung ist i.d.R. nur zulässig, wenn sie der Schutz der Allgemeinheit oder der Rechtsgüter anderer verlangt. Dies schließt allerdings nicht von vornherein einen staatlichen Eingriff aus, der ausschließlich den Zweck verfolgt, einen psychisch Kranken vor sich selbst zu schützen und ihn zu seinem eigenen Wohl in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.10.1981 – 2 BvR 1194/80, BVerfGE 58, 208, 224 ff.).

2. Eine nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB angeordnete Freiheitsentziehung ist allerdings nur verhältnismäßig, wenn während der Unterbringung eine erfolgversprechende Heilbehandlung überhaupt durchgeführt werden kann, ohne ihrerseits Grundrechte der Betroffenen zu verletzen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.07.2015– 2 BvR 1549/14, BtPax 2015, 192).

3. Ist eine Heilbehandlung nur unter Zwang möglich, so ist eine Genehmigung der Unterbringung zu diesem Zweck nur zulässig, wenn die Voraussetzungen für eine ärztliche Zwangsmaßnahme i.S.d. § 1906a Abs. 1 BGB vorliegen und diese nach § 1906a Abs. 2 BGB rechtswirksam genehmigt wurde (BVerfG Beschluss vom 14.07.2015– 2 BvR 1549/14, BtPax 2015, 192).

4. Zu den Maßgaben des Art 2 Abs. 2 Satz 2 GG für die richterliche Sachaufklärung in Freiheitsentziehungssachen.

Anmerkung:

BVerfG, Beschluss vom 08. Juni 2021, 2 BvR 1866/17 – Teilweise erfolgreiche Verfassungsbeschwerden zu Zwangsbehandlungen bei Patientenverfügung im Maßregelvollzug –

Leitsätze:

  1. Staatliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG gegenüber einer untergebrachten Person können eine Zwangsbehandlung nicht rechtfertigen, wenn diese die in Rede stehende Behandlung im Zustand der Einsichtsfähigkeit durch eine Patientenverfügung wirksam ausgeschlossen hat.
  1. Der Vorrang individueller Selbstbestimmung auf der Grundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechts setzt voraus, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über ihre Reichweite getroffen hat. Seine Erklärung ist daraufhin auszulegen, ob sie hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungs- und Lebenssituation von ihrer Reichweite umfasst ist.
  1. Die staatliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte anderer Personen, die mit dem Betroffenen in der Einrichtung des Maßregelvollzugs in Kontakt treten, bleibt unberührt. Die autonome Willensentscheidung des Patienten kann nur so weit reichen, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren.
  1. Sieht der Gesetzgeber die Maßnahme einer Zwangsbehandlung derjenigen Person vor, von der die Gefährdung anderer ausgeht, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit gebunden. Strenge materielle und verfahrensrechtliche Anforderungen müssen sicherstellen, dass die betroffenen Freiheitsrechte nicht mehr als unabdingbar beeinträchtigt werden.

Anmerkung:

2. Beschlüsse BGH

Beschluss vom 15. Januar 2020 XII ZB 381/19
– Zwangsbehandlung von Schizophrenie durch Elektrokrampfmaßnahme im Regelfall nicht genehmigungsfähig –

Leitsätze:

Zu BGB § 1906 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1

a) Als notwendig können nur ärztliche Zwangsmaßnahmen angesehen werden, deren Durchführung einem breiten medizinisch-wissenschaftlichen Konsens entspricht. Derartiger Konsens kann sich namentlich in wissenschaftlichen Stellungnahmen des Beirats der Bundesärztekammer sowie durch medizinische Leitlinien äußern.

b) Falls der an Schizophrenie leidende Betreute einer Elektrokonvulsionsthe-rapie/Elektrokrampftherapie (EKT) ausdrücklich widerspricht, ist die Einwilligung des Betreuers in deren zwangsweise Durchführung im Regelfall nicht genehmigungsfähig.

Anmerkung:


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